J. Stückelberger (Hg.): Moderner Kirchenbau in der Schweiz

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Titel
Moderner Kirchenbau in der Schweiz.


Herausgeber
Stückelberger, Johannes
Erschienen
Zürich 2022: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
155 S.
von
David Zimmer

Der Bau einer Kirche ist eine architektonisch anspruchsvolle Aufgabe: Das Gebäude hat nicht allein funktionalen, d.h. vor allem liturgischen Anforderungen zu genügen; es setzt oft auch städtebauliche Akzente, reflektiert – stärker als andere Gebäudetypen – gesellschaftliche Veränderungen und muss sich zudem an einer mindestens tausendfünfhundertjährigen typologischen und stilistischen Entwicklung messen lassen. Im 19. und besonders im 20. Jahrhundert hat der Kirchenbau (nicht nur) in der Schweiz enorm an Schub zugelegt: Tausende von Sakralbauten wurden umgebaut oder neu errichtet, und die dabei verwendeten Architekturstile lösten einander in rascher Folge ab: Historismus, Jugend-, Heimatstil, Neues Bauen, Nachkriegs-, Postmoderne – um nur einige markante Etappen bzw. Schlagwörter zu nennen.
Der anzuzeigende, von Johannes Stückelberger herausgegebene Sammelband, der die Beiträge des dritten Schweizer Kirchenbautags vom 30. August 2019 in Bern beinhaltet, verspricht im Titel eine Beschäftigung mit dem «modernen Kirchenbau in der Schweiz»; er versteht «modern» jedoch nicht als jenen architekturgeschichtlichen Stilbegriff, der in der hiesigen Sakralarchitektur ab den 1930er Jahren Wirkung entfaltete, sondern beschränkt sich ohne nähere Begründung auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vermutlich ist dies der «Datenbank Moderner Kirchenbau» geschuldet, die die rund eintausend römisch-katholischen, evangelisch-reformierten, christkatholischen und freikirchlichen Kirchen, Kapellen und Klöster, die seit 1950 in der Schweiz gebaut worden sind, nahezu vollständig verzeichnet. Die mit verschiedenen Filtermöglichkeiten ausgestattete, für Kircheninteressierte höchst nützliche, ja unabdingbare, kostenlos zugängliche Datenbank (www.schweizerkirchenbautag.unibe.ch/moderner_kirchenbau/index_ger.html) ist an der damaligen Tagung offiziell lanciert worden, und mehrere Autorinnen und Autoren nehmen im Band darauf Bezug. Die Verwendung des «Moderne»-Begriffs bei gleichzeitiger Selbstbeschränkung auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – wobei diese ja eigentlich bereits 1945 begann – ist letztlich aber weder nachvollziehbar noch stichhaltig. Schade, denn abgesehen davon findet der Rezensent (der, das sei der Redlichkeit halber deklariert, seit 2020 für einen der Sponsoren des Kirchenbautags von 2019 arbeitet) das Buch äusserst lesens- und empfehlenswert.
Der Band setzt sich aus einem kurzen einleitenden Vorwort, acht Fachbeiträgen unterschiedlicher thematischer Ausrichtung und dem Transkript eines Podiumsgesprächs zusammen. Illustriert ist das Buch mit 88 Schwarzweissphotographien und Planreproduktionen. Die meisten Beiträge verfügen über Anmerkungen mit Literaturhinweisen; eine Bibliographie, die einen Überblick über den Forschungsstand verschaffen würde, fehlt allerdings ebenso wie ein Register (Architektinnen und Architekten, Künstler/innen, Orte). Der Grossteil der behandelten Kirchen steht in der deutschsprachigen Schweiz; die Suisse romande kommt lediglich am Rande vor. Immerhin ist die Suchmaske der erwähnten Datenbank auch in französischer und in englischer Sprache verfügbar. Eine systematische Auswertung oder gar Visualisierung des in der Datenbank vorliegenden Datenmaterials findet im Band nicht statt, und die Angaben zur Zahl der errichteten Kirchen und den vertretenen Konfessionen sind etwas ungenau und widersprüchlich (z. B. S. 35 u. 49).
Anke Köth zeigt in ihrem Beitrag anhand von Beispielen hauptsächlich aus dem Kanton Aargau vier prägende Themen im Kirchenbau seit 1950 auf: Erstens die Zeltform zahlreicher Kirchen, die das Bild des «wandernden Gottesvolks» aufgreift und architektonisch umsetzt; zweitens das Verständnis der Kirche als Skulptur und Kunstwerk, wie es in den plastisch-skulpturalen Raumgestaltungen eines Walter M. Förderer oder Hanns A. Brütsch zum Ausdruck kommt; drittens die angestrebte Integration der Kirche in den Alltag, die in den 1970er und 80er Jahren namentlich mittels Kirchgemeindezentren und multifunktionaler Räume realisiert wurde; und viertens die Rückkehr zur sakralen «Atmosphäre» (Gernot Böhme) von Kirchenräumen ab den 1990er Jahren.
Die Resakralisierungstendenzen im Kirchenbau Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts kommen auch in den Beiträgen von Katrin Kusmierz über die beiden wettstreitenden Prinzipien einer Kirche «in der Welt» (idealtypisch verwirklicht im Zentralbau) versus einer Kirche «gegenüber der Welt» (Längsbau) und von Johannes Stückelberger über das ursprünglich explizit für verschiedene Nutzungen konzipierte Kirchenzentrum St. Petrus in Embrach (ZH) zur Sprache. Letzteres wurde nach seiner Einweihung 1980 innerhalb von vierzig Jahren zwei Mal umgebaut, und anhand der Umbauten lassen sich die Abkehr von der Multifunktionalität und die Hinwendung zur Sakralität gut nachvollziehen. Stückelberger führt diesen Wandel darauf zurück, dass die Erfahrung von Gemeinschaft im Vergleich zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils in den Hintergrund und die Orientierung am Göttlichen bei gleichzeitiger Individualisierung der Frömmigkeitspraktiken in den Vordergrund getreten seien. Einen Beleg dafür, dass die Multifunktionalität von Kirchenräumen als Konzept gescheitert ist, vermag Stückelberger (ähnlich wie Kusmierz) darin jedoch nicht zu erkennen.
Wie Bernhard Furrer in seinem Beitrag ausführt, nehmen Kirchen gegenüber anderen Gebäudetypen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insofern keine Sonderstellung ein, als «die Architektur der Nachkriegszeit in der öffentlichen Wahrnehmung ganz allgemein einen schweren Stand» hat (S. 121). Dies gilt auch für die Kirchen aus jener Zeit, die nicht selten kontrovers diskutiert wurden und weiterhin werden – was den denkmalpflegerisch fachgerechten Umgang mit ihnen nicht unbedingt erleichtert. Hinzu kommt die grosse Zahl von Kirchen, die saniert werden müssen, und die vergleichsweise geringe zeitliche Distanz zur Entstehungsphase. Furrer betont, «dass der denkmalpflegerische Umgang mit Kirchenbauten der Nachkriegszeit exakt denselben Grundsätzen und Anforderungen zu genügen hat, wie sie für bedeutend ältere Kirchen, etwa der Romanik oder der Gotik, gelten» (S. 139). Dazu gehört nicht zuletzt die unvoreingenommene, verantwortungsbewusste Interessenabwägung zwischen einer uneingeschränkten Erhaltung auf der einen Seite und einer adäquaten Nutzung, also liturgischen Erfordernissen, auf der anderen Seite. Allerdings kommt es immer wieder vor, dass sich Kirchgemeinden und übergeordnete Instanzen für einen Abbruch selbst von Kirchen entscheiden, die von der Denkmalpflege als wertvoll und in hohem Masse repräsentativ für ihre jeweilige Entstehungszeit eingestuft worden sind. Dem Abbruch grundsätzlich vorzuziehen ist eine Umnutzung, die freilich ebenfalls mit etlichen Herausforderungen verbunden ist.
Weitere Beiträge befassen sich mit der liturgischen Ausstattung (Johannes Stü-ckelberger), dem sich wandelnden Liturgieverständnis (Urban Fink), der Glockenlärmproblematik (Matthias Walter) und dem Orgelbau (Michael Meyer). Das abschliessende Gespräch mit Nutzerinnen und Nutzern verschiedener Nachkriegskirchen endet mit dem Fazit, dass diese Bauten, zumindest von den anwesenden Seelsorgepersonen, die in solchen Kirchen tätig sind, «nicht als Hypothek, sondern primär als Orte mit einem riesigen Potenzial» erlebt werden (S. 152).
Wie die im Zweijahresrhythmus stattfindenden Kirchenbautage richtet sich auch das vorliegende Buch an Personen, die beruflich mit «modernen» Kirchen zu tun haben oder sich sonst dafür interessieren: «Pfarrerinnen und Pfarrer, Bauverantwortliche und Mitarbeitende in den Pfarreien und Kirchgemeinden, Denkmalpflegerinnen und Denkmalpfleger, Bauberaterinnen und Bauberater, politische Verantwortungsträgerinnen und -träger, Forschende sowie Interessierte» (S. 8). Aufgrund seiner konzisen, gut lesbaren Form, kombiniert mit unaufgeregter Interdisziplinarität und Multiperspektivität, eignet sich der Sammelband sowohl für einen Einstieg ins Thema als auch für die Vertiefung einzelner Aspekte.

Zitierweise:
Zimmer, David: Rezension zu: Stückelberger, Johannes (Hg.): Moderner Kirchenbau in der Schweiz, Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 482-484. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.

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